Manfred Hellrigl

 

Gestern habe ich es wieder getan.

Gestern habe ich wieder das Portal durchschritten.

Das Portal in eine andere Welt. 

In einen anderen Bewusstseinszustand.

Ich war in Bern. 

In der Länggasse.

Im Länggass-Teeladen.

Du kommst rein, und spürst sofort, dass das ein besonderer Ort ist.

Vom kleinen Verkaufsraum geht es über eine enge, knarrende, hölzerne Wendeltreppe nach oben in den ersten Stock.

Es fühlt sich für mich gleich an wie im Zendo.

Diffuses Licht. Alle sprechen mit gedämpfter Stimme.

Es herrscht eine entspannte, völlig unaufgeregte Atmosphäre der stillen Aufmerksamkeit.

Das Ritual, das dann folgt, nennt sich Gōng Fū Chá: Die chinesische Tee-Zeremonie. 

Es verblüfft mich immer wieder. 

In einer so simplen, wiederkehrenden Tätigkeit wie der Teezubereitung können wir uns – wenn wir wollen – darin üben, zu uns zu kommen.

Wach. Entspannt. Ganz gegenwärtig.

Klar. Du kannst das alles auch einfacher haben: Ein Kaffee- oder Tee-Automat. Du wirfst eine Münze rein. Ein Pappbecher fällt runter. Ein undefinierbares Gebräu ergießt sich in den Becher. Du machst dich – mit dem heißen Getränk in der einen Hand – auf den Weg, während du – mit dem Smartphone in der anderen Hand – checkst, ob du vielleicht irgendeine super-wichtige Nachricht verpasst hast.

Aber hier ist alles anders.

功夫茶 Gōng Fū Chá.

Die erste Silbe, 功 Gōng, steht für »Arbeit« oder »Mühe«.

功夫 Gōngfū ist keine »gewöhnliche« Arbeit, sondern eine, die wir mit Fleiss und Hingabe verrichten.

Die Tätigkeit selbst – egal, was sie zum Inhalt hat – wird quasi zur Kunstform.

Gōngfū, das ist Arbeit, die uns nicht einfach nur Kraft kostet, sondern die wir »meistern«, um durch sie innere Kraft und Stärke zu entwickeln und unseren Geisteszustand zu verfeinern.

Das dritte Schriftzeichen, 茶 chá, steht für Tee.

功夫茶 Gōng Fū Chá. Die Kunst der sorgfältigen Teezubereitung.

Durch sie kann etwas so Alltägliches und Banales wie die Zubereitung einer Tasse Tee zur kostbaren Übung der Geistesschulung werden.

Erinnerst du dich noch an die Geschichte von den Steinmetzen, die ich kürzlich geteilt habe?

Hier begegnet sie uns wieder: diese innere Haltung, mit der wir Arbeit nicht nur verrichten, um sie möglichst rasch hinter uns zu bringen, sondern der wir uns hingeben, um uns selbst durch sie zu verwandeln, zu veredeln.

Die Prinzipien sind universell anwendbar:

  • Mach weniger. Wähle sorgfältig aus, was du tust. Lass alles unnötige weg.
  • Nimm dir Zeit. Lass dich ganz auf das ein, was du tust.
  • Achte auf Qualität. Steck deine ganze Liebe und Sorgfalt hinein.

So kann alles, was du tust, zu einem Portal in die Gegenwart werden.