Die Tage werden spürbar kürzer. Bald sind sie genauso lang wie die Nächte.
Früher war mir das ziemlich egal. Heute spüre ich mehr und mehr die Magie dieses Moments. Und ich staune darüber, wie gleichgültig wir dafür geworden sind, wo sich die Erde gerade in ihrer Umlaufbahn um die Sonne befindet.
Unsere Vorfahren in der Steinzeit haben immense Anstrengungen unternommen und tonnenschwere Steine bewegt, um genau diese besonderen Momente zu markieren und zu feiern. (Stonehenge!)
Unser modernes Herbst-Ritual hingegen scheint hauptsächlich darin zu bestehen, auf die neueste Smartphone-Generation und das nächste Betriebssystem-Update zu warten.
Dabei hat der Stand der Sonne weitaus größere Auswirkungen auf unser Leben als eine zusätzliche Taste am Telefon.
Die Position der Erde zur Sonne bestimmt nicht nur, ob es gerade hell oder dunkel ist, sondern beeinflusst auch stark, wie wir uns fühlen.
Deshalb interessiert es mich immer mehr, wo wir uns gerade im Jahreszyklus befinden.
Vielleicht liegt es daran, dass ich älter werde, aber ich merke: Je mehr wir uns in virtuellen Welten verlieren und uns mit künstlicher Intelligenz umgeben, desto stärker wird meine Sehnsucht nach Verbindung mit der realen, natürlichen Welt – mit der Umwelt, die uns umgibt und die sich in einem uralten Rhythmus bewegt.
Dieser Rhythmus beruhigt, nährt und inspiriert mich. Das spüre ich jedes Mal, wenn ich in den Wald gehe. Es macht etwas mit mir, mich bewusst mit der Natur zu verbinden.
Eine tiefe Naturerfahrung hatte ich letzte Woche, als ich auf einem Sesshin in Puregg war.
Die warmen, klaren Spätsommertage in den Bergen waren wunderschön. Zwischen den Sitzperioden war viel Freiraum – Zeit für Spaziergänge oder einfach zum Nichtstun.
Nach dem Mittagessen setzte ich mich auf eine Bank mit Blick ins Tal. Ohne etwas zu tun, ließ ich die Welt um mich herum auf mich wirken. Ohne Ziel. Ohne Zweck. Einfach so.
Vielleicht war es die Wirkung des Sesshins, aber ich bemerkte eine gesteigerte Intensität meiner Wahrnehmung. Ich entschied mich, mich ins trockene Gras zu setzen.
Die warme Luft aus dem Tal trug einen würzigen Duft mit sich. Vor mir wuchsen hohe Gräser, die ich nicht kannte, und ich konnte mich dem intensiven Grün ihrer Blätter nicht entziehen. Ihre Blüten erinnerten mich an Maispflanzen. Die Schönheit, die vor mir lag, berührte und faszinierte mich – eine Schönheit, die mir die Tage zuvor gar nicht sonderlich nicht aufgefallen war. Es war, als würde ich all das zum ersten Mal sehen.
Während ich die sich mir offenbarende Schönheit dankbar aufnahm, erinnerte ich mich daran, dass ich dieses Gefühl kannte – von anderen Sesshins. Das lange, stille Sitzen, der Reizentzug, die Rituale – all das führt uns zurück zu uns selbst, in die Gegenwart, in das Jetzt. Plötzlich wachen wir auf und sehen die Schönheit, die uns umgibt, die immer da ist, die wir aber oft nicht bemerken.
Ich fragte mich: Was hält mich davon ab, dieses Gefühl öfter zu erleben? Die Antwort kam sofort: Weil wir sonst zu schnell unterwegs sind. Wir eilen von einem Projekt zur nächsten Aufgabe, getrieben von der wahnhaften Vorstellung, unbedingt woanders sein zu müssen, unbedingt etwas erreichen zu müssen. In der Annahme, dass es uns dort besser geht.
Dabei übersehen wir das, was direkt vor unseren Augen liegt – das immer da ist, geduldig darauf wartend, dass wir endlich zu uns kommen.
Der Herbst ist eine wunderbare Gelegenheit zum Loslassen. Die ganze Natur atmet aus, erschöpft vom langen, heißen Sommer.
Jetzt ist eine gute Zeit, um zu sich zu kommen.
Bist du heute schon gesessen?